Von der Zertrennung in der Kirche
Ein Kommentar von Bernhard Kaiser
Eines der schmerzlichsten Probleme im Christentum im allgemeinen und im Protestantismus im besonderen ist das der mangelnden Einheit. Dieses Problem ist weder neu noch wurde es durch die "Glaubensspaltung", wie die Reformation aus römischer Sicht apostrophiert wird, aufgeworfen, sondern es besteht, seitdem es Kirche gibt. Bereits Paulus muß die Gemeinden zur Einheit gemahnen, und die apostolischen Väter Clemens von Rom (gest. 95 n.C.) und Ignatius von Antiochien (gest. 114 n.C.) kämpfen nicht weniger für das gleiche Ziel. Die frühkatholische Kirche hatte am Anfang des 4. Jahrhunderts die unterschiedlichsten Lehrmeinungen; von Einheit der Kirche war nichts zu sehen. Es war im Grunde das Diktat der christlichen Kaiser, das die Kirche vordergründig einte. Indes sind die altkirchlichen Bekenntnisse, die auf diese Weise zustande kamen, noch schriftgemäß.
Im Laufe der Jahrhunderte spielte das Papsttum eine immer größere Rolle für die Einheit. Der Papst machte sich zum Oberhaupt der ganzen Christenheit. Unter anderem deswegen spaltete sich im Jahre 1054 die Ostkirche von der Westkirche ab. Jene hatte ihr Zentrum in Konstantinopel, dem späteren Istanbul, das im Jahre 1453 an die Türken verloren ging. So blieb Rom als Hauptstadt der Westkirche übrig. Deren Einheit wurde über Jahrhunderte hinweg durch unbegründete, aber sich stets steigernde Papstansprüche und durch die weltliche Macht der Könige und Kaiser gesichert. Die Inquisition trug mit Scheiterhaufen und Kreuzzügen gegen sogenannte Ketzer das Ihre zur gewaltsamen Sicherung der Einheit bei. In der modernen Zeit freilich wird die Einheit der römischen Kirche durch die Dogmatisierung der Tradition, des Papsttums und der Marienverehrung gesichert soweit Katholiken zu ihrer Kirche stehen. Ob dies die geeigneten Werkzeuge zur Sicherung der dauerhaften Einheit der römischen Kirche sind, darf bezweifelt werden.
Die Reformation paßte nicht in das römische System und wurde darum ausgeschieden. Wäre die römische Kirche der biblischen Orientierung der Reformation gefolgt, dann hätte sie sich selbst hinwegreformieren müssen. Schriftgemäßer Glaube braucht eben keinen Papst als Garant der Einheit, keine Weihehierarchie zur Vermittlung zwischen Gott und Mensch, keine aus dem Vollzug heraus wirksamen Sakramente und keine Maria als Vorzimmerdame des Erlösers.
Im Gegensatz zum Katholizismus ist der Protestantismus zutiefst gespalten und in sich zerstritten. Gab es zunächst nur das Lager von Lutheranern, Calvinisten und Täufern, so kamen im Laufe der Jahrhunderte weitere Denominationen hinzu: Methodisten, Baptisten, Altlutheraner, Altreformierte, Freie Evangelische Gemeinden, Brüdergemeinden unterschiedlicher Richtung, KfG-Gemeinden und Wildwuchs wie die Jesus-Freaks. In den Kirchen der Reformation und des 19. Jahrhunderts haben sich unterschiedliche Richtungen herausgebildet; zumeist handelt es sich um konservative und liberale Richtungen. Das Spektrum ist bunt, und es besteht allemal keine lehrmäßige Einheit.
Die Gespaltenheit des Protestantismus setzt sich auch unter den sogenannten Bibeltreuen fort. Es ist ein Jammer, daß selbst dort, wo Gottes Wort als Autorität bekannt wird, die Einheit allenfalls im Bekenntnis zur Autorität der Schrift besteht, ansonsten aber unterschiedliche und widersprüchliche Auslegungen der Bibel ein gemeinsames Glaubensbekenntnis unmöglich machen.
In 1Kor 11,19 sagt Paulus: "Denn es müssen ja Spaltungen unter euch sein, damit die Rechtschaffenen unter euch offenbar werden." Spaltungen sind offensichtlich Ausdruck der Tatsache, daß es Rechtschaffene und Nicht-Rechtschaffene in der Kirche gibt. Das gilt sowohl für die lokale Gemeinde als auch für die verschiedenen Denominationen. Es gilt sicher auch in der Hinsicht, daß es Nicht-Rechtschaffenheit in unterschiedlichen Formen und Graden gibt. In anbetracht der Tatsache, daß wir es in der Kirche immer mit Sündern zu tun haben, ergeben sich folgende Perspektiven:
(1) Einige Sünder in der Kirche suchen ihre Rechtfertigung in Christus. Durch den Glauben haben sie an Christus teil, lieben ihn, dienen ihm und sind rechtmäßige Glieder der Kirche.
(2) Andere vermischen ihre natürliche Religiosität oder auch nichtchristliche, heidnische Anschauungen mit dem Evangelium und tragen so die Spaltung in die Kirche hinein.
(3) Dritte mögen rechtgläubig sein, aber in ihrem Egoismus oder ihrer Machtgeilheit mißbrauchen sie die Kirche, um andere Menschen für sich zu instrumentalisieren.
(4) Viele wollen Glieder der Kirche sein, aber geben ihrem Unglauben darin Ausdruck, daß sie offen in Sünde leben und so die Heiligkeit der Kirche kompromittieren.
(5) Wieder andere mißbrauchen die Kirche, um nichtchristliche Anschauungen in ihr zu verbreiten, weil sie die Mittel und die Macht dazu haben.
Die vier letztgenannten Gruppen von Menschen sind es, die Spaltungen verursachen. Solange die Erde steht, werden solche Leute in die Kirche hineindrängen und sie bewußt oder unbewußt von Christus, dem Herrn der Kirche, wegführen wollen. Einheit im Geist, also Einheit im Bekenntnis und in der Gesinnung ist darum nicht die Regel, sondern ein Wunder. Sie ist Gottes Gabe und kann nicht von Menschen gemacht werden. Sie kann wohl und soll von den Christen gesucht und erbeten werden, aber ein Garantie, daß man sie findet, gibt es nicht. Sie ist dort gegeben, wo Gott Menschen Sündenerkenntnis, Umkehr und Glauben an Christus gibt. Häufig ist es notwendig, daß sich diese von einer bestehenden Gemeinde trennen, wenn in dieser der Unglaube regiert. Allemal kann die Einheit der Kirche nicht organisiert werden, denn das ist nichts anderes als Aufbau weltlicher Machtstrukturen mit weltlichen Mitteln.
Es scheint, daß Gott den westlichen Protestantismus derzeit ganz und gar sich selbst überläßt. Jedenfalls ist nicht erkennbar, daß Protestanten wirklich die Einheit im Glauben im Hören auf die heilige Schrift suchen. Gesprächsforen dieser Art sind mir nicht bekannt, und falls es bei einer Konferenz zu einem theologischen Gespräch kommt, besteht es bestenfalls in einem unverbindlichen gegenseitigem Austauschen von subjektiven Sichtweisen. Allenfalls geht man Zweckbündnisse ein, um bestimmte Ziele zu erreichen, ohne daß eine gemeinsame biblische Linie wirklich erkennbar wäre. Die einzelnen Bündnispartner suchen nach wie vor das Ihre, ihr Programm, ihr Teil am Spendenkuchen, ihren Einfluß im gemeinsamen Auftritt und ihre Theologie, falls sie eine haben.
Die Existenz der Kirche ist also ständig von Spaltungen unterschiedlicher Art bedroht. Das einzusehen ist desillusionierend, aber in höchstem Maße realistisch. Die Kirche ist darum im Sinne der Reformation eine immer zu reformierende ("semper reformanda"). Sie läßt sich nicht bis an das Ende der Zeit konservieren. Auch konfessionelle Identität kann nicht konserviert werden. Die Kirchen der Reformation wurden durch die Aufklärung liberalisiert, so daß sich im Bemühen um die konfessionelle Identität im 19. Jahrhundert Altlutheraner und Altreformierte bildeten. Bei diesen ist derzeit der gleiche Prozeß im Gange. Wir lernen daraus: Jede Generation muß ihren Glauben neu aus der heiligen Schrift schöpfen und rechtmäßige Kirche gewinnen. Aber auch das sei gesagt: Gott hat der Kirche aller Zeiten die heilige Schrift gegeben und mit ihr das apostolische Wort. Indem wir dieses hören, haben wir teil an der apostolischen Gemeinschaft, die hier auf Erden besteht, aber doch mit Gott im Himmel ist.