Mystik als globale Religion?
Ein Kommentar von Bernhard Kaiser
Die deutsch-amerikanische Künstlerin Hilla von Rebay (1890-1967) sagte: "Nicht-Gegenständlichkeit wird die Religion der Zukunft sein." Als Künstlerin betrieb sie systematisch die entsprechende Malerei. Nicht das, was geschöpflicherweise da ist, soll abgebildet werden, sondern Symbole und Formen, die aus dem menschlichen Geist kommen und gleichsam als universale Sprache Gemeinsamkeit stiften. Die moderne Malerei, also die des 20. Jahrhunderts hat sich darum in stets neuen Variationen bemüht, die in der geschöpflichen Wirklichkeit vorfindlichen Formen zu verlassen und Unförmiges oder Formloses darzustellen. Die Reaktion des Betrachters: "Ich weiß nicht, was soll das bedeuten "
Dieser Geist hat das Christentum des 20. Jahrhunderts in nicht geringem Maße infiziert. Die Stoßrichtung war klar: Weg von Wort. Das Wort als Teil der Schöpfung, als diesseitige und bestimmende Größe wurde gering geachtet. Die Mystiker aller Zeiten haben verkündigt, daß die Wahrheit oder Gott im Menschen liege. Man müsse durch die Reise nach innen Gott in sich entdecken und die nicht durch Dogmen und Riten vermittelte Einung mit Gott als dem Urgrund des Seins erleben, und so lehren er moderne Mystiker wie Anselm Grün und Eugen Drewermann. Die existentiale Theologie machte die die Persönlichkeit erschütternde oder an ihre Grenzen führende Begegnung mit dem, was sie "Gott" nannte, zum Inbegriff des christlichen Glaubens. Auch der Neupietismus zögerte nicht, in solchen "Buße" und "Wiedergeburt" genannten Erlebnissen die Begegnung mit Gott zu sehen. Auch er wollte den Heiligen Geist nicht im biblischen Wort haben, sondern auf einer zweiten Schiene neben dem Wort und direkt, ohne Vermittlung durch das Wort. Die Charismatik verfolgte diese Linie, indem sie dem Wort überhaupt keine heilsvermittelnde Bedeutung mehr zumaß und die Heilserfahrung ganz im charismatischen Erlebnis sah.
Der frühere Atomphysiker und bernische Pfarrer Hans-Rudolf Stadelmann sagt in seinem Buch Im Herzen der Materie (2004), Gott sei das kreative Prinzip in der Materie, das auf dem Wege der Evolution die Wirklichkeit hervorgebracht habe. Man muß daraus folgern, daß "Gott", dieses geistige Prinzip, überall wirksam ist. Diese Anschauung erlaubt es, alle Religionen als Ausdruck desselben Prinzips zu sehen. Dieses Prinzip aber ist unanschaulich, eben geistig, und darum nur auf dem Wege der Mystik zugänglich. Darum verwundert es nicht, wenn heute unter der Flagge der Spiritualität hinduistische Nonnen in einer evangelischen Kirche tanzen, moslemische Sufis und christliche Mystiker den Dialog suchen und wenn Schamanen bei ökumenischen Veranstaltungen ihren Zauber ausführen. Mystik scheint die Grenzen zwischen den Religionen zu sprengen und eine vom Wort ungestörte religiöse Gemeinschaft zu stiften. Doch die Wirklichkeit das was uns täglich an Nachrichten erreicht spricht eine ganz andere Sprache, die dieses Denken ins Reich der Illusionen weist.
Christlicher Glauben hingegen lebt mitten im Dschungel der Weltanschauungen aus dem von Gott ausgesprochenen Wort der Bibel. Das Wort ist konkret, es bezeichnet diesseitige Dinge, es bedeutet etwas, es scheidet zwischen Wahrheit und Lüge oder Irrtum. Es steht auch im Dienst der Offenbarung, die Gott in Raum und Zeit gegeben hat, es bezeugt die Fleischwerdung Gottes. Wenn Gott uns an sein Wort weist, dann mögen wir billigerweise auf die Mystik verzichten, und wenn er uns darüber hinaus mit dem Wort Verheißungen gibt, dann mögen wir ihm billigerweise glauben. Dann mögen wir wohl im Glauben von vielen Nichtchristen geschieden sein, aber sie um Christi willen lieben.