Werte ohne Grenzen
von Bernhard Kaiser
Werte finden sich in allen Religionen. Es läßt sich unschwer zeigen, wie in vielen Religionen die goldene Regel ("alles was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch") in der Sache als ethisches Prinzip vorzufinden ist. Es findet sich auch in der "Erklärung zum Weltethos" der von Hans Küng initiierten Stiftung Weltethos: "Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Oder positiv: Was du willst, das man dir tut, das tue auch den anderen!" Sodann wird gefordert: "Dies sollte die unverrückbare, unbedingte Norm für alle Lebensbereiche sein, für Familie und Gemeinschaften, für Rassen, Nationen und Religionen."
Aus diesem Prinzip lassen sich zweifellos Werte wie Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Solidarität, Nächstenliebe und verwandte Tugenden ableiten. Auf diese bauen die Verfassungen und Grundgesetze vieler Staaten auf, und sie fließen in der Regel in die konkrete Gesetzgebung ein. Auch wenn der Materialist "Werte" als Produkt oder Konstrukt des menschlichen Gehirns ansieht und ihre Geltung nicht begründen kann, so kann eine Gesellschaft ohne Werte nicht leben. Ohne sie herrschte das Gesetz des Dschungels: Fressen und Gefressen werden. Sinnvollerweise haben darum alle Gesellschaften Werte, und es ist im Grundsatz richtig, auf diese hinzuweisen, insbesondere angesichts des Nihilismus, den der Pluralismus in sich birgt.
Werte stehen in der Regel auch in unmittelbarer Verbindung zur Religion oder religiösen Anschauungen einer Gesellschaft. Nur auf religiösem oder weltanschaulichem Wege läßt sich ihre Geltung begründen oder scheinbar begründen. Darum liegt es in der Natur der Sache, wenn Religionen oder Religionsgemeinschaften Werte vertreten. Ob es das Parlament der Weltreligionen ist, das sich des Projektes Weltethos angenommen hat, oder evangelikale Organisationen, die die Gunst der Stunde erkannt haben und den regelmäßig stattfindenden Kongreß christlicher Führungskräfte ausrichten, oder protestantische oder römische Bischöfe, die die Berücksichtigung von Werten im gesellschaftlichen Zusammenleben anmahnen - Werte haben religiöse oder weltanschauliche Vertreter.
Indes müssen wir aus reformatorischer Sicht ganz entschieden darauf aufmerksam machen, daß Werte einen Menschen nicht retten können. Sie sind schöne Ideale; der Mensch kann sich an ihnen begeistern, er kann vielleicht sogar zeigen, daß die Orientierung an Werten Lebensqualität, Vertrauen und Erfolg bringt, das gesellschaftliche Miteinander stabilisiert und auch eine hohe Bedeutung für die Erziehung von Kindern hat. Er kann auch angesichts massiven Fehlverhaltens, etwa wenn Männer des öffentlichen Lebens die Ehe brechen, Konzernmanager bestechen oder sich bestechen lassen, der Nachbar seine Frau verprügelt oder der Kollege in den Alkoholismus abrutscht, entrüstet den Kopf schütteln und die Schlechtigkeit der Welt beklagen und seinen guten Willen vom Glanz hehrer Ideale bescheinen lassen. Doch die Werte als Ideale verbreiten nur Schein und nicht Sein. Was nützt es, wenn ein Mensch vordergründig Werte verkündigt, aber hinter den Kulissen besticht, lügt oder die Ehe bricht?
Werte stehen theologisch gesehen im Rahmen des Gesetzes. Sie fordern, aber geben nichts. Sie machen auch einen Menschen nicht zum Christen, selbst wenn er sich die Bergpredigt Jesu zum Leitbild seines Lebens macht und die goldene Regel stets zu befolgen versucht. Werte machen ein schlechtes Gewissen, sie machen den Menschen zum Sünder und haben nicht die Kraft, die Existenz des Menschen zu heilen. Hier setzt nun die christliche Heilsbotschaft ein. Sie tritt nicht mit der Forderung auf: "Handele gemäß den Geboten Gottes, dann bist du ein guter Christ!" Sie deckt vielmehr auf, daß der Mensch am laufenden Band gegen Gottes Gebot sündigt und zeigt ihm, daß er den Zorn Gottes verdient. Sie verkündet, daß Christus alle Forderungen des Gesetzes Gottes erfüllt hat und daß Gott um seinetwillen Sünden vergibt. Sie sagt dem Christen auch nicht: "Der Heilige Geist gibt die die Kraft, die Gebote Gottes zu halten." Sie lehrt den Christen, im Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus zu leben, nicht einem ethischen Ideal zu folgen. Zwar wird die Frucht des Glaubens das Leben in den Geboten Gottes sein, aber wegen der formalen Beachtung der Gebote ist der Mensch weder ein guter Mensch noch ein Christ.
Es ist darum vollkommen falsch, Werte zum Bindeglied zwischen Religionen und Konfessionen zu machen. Werte helfen wohl zum gesellschaftlichen Zusammenleben, und es ist vollkommen richtig, wenn Christen wie Nichtchristen sie in der Öffentlichkeit vertreten. Sie können aber keinen gemeinsamen Glauben begründen und drücken auch keinen gemeinsamen Glauben aus. Das Christliche läßt sich nicht auf Werte reduzieren. Die Kirche schuldet der Welt die Predigt des Gesetzes zur Aufdeckung der Sünden und noch viel mehr das Evangelium, das von der Vergebung der Sünden spricht. Es ist darum praktisch eine Verleugnung Christi, wenn man Christus bloß zum Paten christlicher Werte macht und den Hauptauftrag der Kirche in der Verkündigung von Werten sieht, damit der aufgeklärte Mensch sich selbst verbessert oder meint retten zu können.